Bewerber möchten sich im Auswahlprozess von ihrer besten Seite zeigen. Doch wie können Recruiter mit Antworten zwischen Wunsch und Wirklichkeit der Kandidaten umgehen? Testverfälschung durch sozial erwünschtes Antwortverhalten ist ein komplexes Thema, für das es keine eindeutige Lösung gibt – aber dafür verschiedene, angemessene Verfahren für die Personalauswahl. Wem Testverfälschung schadet und wie mehr und weniger geeignete Lösungsansätze gegen überzogene Selbstdarstellung in der Personalauswahl aussehen, erfahren Sie hier.
Selbstdarstellung: Warum Bewerber sozial erwünscht antworten
In der Eignungsdiagnostik meint Selbstdarstellung, dass Bewerber in Testverfahren, aber auch im Interview ihre Aussagen beschönigen, indem sie ihre positiven Eigenschaften hervorheben und negative herunterspielen. Dabei stellen sie sich häufig zu positiv, aber selten gänzlich falsch dar. Sie antworten in Tests vielmehr meist „sozial erwünscht“ und wählen eine Antwort aus, durch die sie sich bessere Chancen auf eine Jobzusage erhoffen. Besonders häufig kommt die überzogene Selbstdarstellung in Persönlichkeitstests vor, die auf Selbsteinschätzungen basieren. Aber auch im Lebenslauf und Bewerbungsgespräch begegnen Recruiter diesem Phänomen: Mancher Kandidat hat schon einmal etwas als eigene Erfahrung dargestellt, obwohl er oder sie es in Wirklichkeit nur passiv miterlebt hat.
Risiko Selbstdarstellung: Wem sie schadet
Wenn Kandidaten einen Test im Auswahlprozess verfälschen, indem sie etwas beschönigen, sollten sie sich bewusst sein, dass sie damit nicht nur dem Unternehmen schaden. In erster Linie schaden sie sich selbst: Denn jede Stelle geht einher mit individuellen Anforderungen. Geht es beispielsweise darum herauszufinden, ob ein Kandidat besser auf die Stelle eines Experten oder Managers passt, ist die Aussage „Mir fällt es leicht, vor Gruppen zu sprechen“ für den Manager-Posten zwar von großer Bedeutung, im Vergleich aber weniger relevant für den Experten. Noch deutlicher wird das bei einer sehr positiven Antwort auf die Aussage: „Es würde mir nichts ausmachen, täglich 10 Kunden zu Hause besuchen zu müssen“ – wer da übertreibt, muss später schnell einlösen, woran er eigentlich keine Freude hat. Durch Selbstüberschätzung oder eine falsche Selbstdarstellung können Bewerber einem für sie unpassenden Profil zugeordnet werden – mit der Konsequenz, dass sie eine geringere Passung für die Position aufweisen und Erfolg und Arbeitszufriedenheit langfristig leiden.
Lösungsansätze gegen Selbstdarstellung
Dass testverfälschende Selbstdarstellung durch sozial erwünschtes Antwortverhalten ein komplexes Phänomen ist, verdeutlichen folgende Methoden, die mehr oder weniger gut geeignet sind, um positiv verzerrte Bilder der Selbstwahrnehmung in ein realistisches Bild von Kandidaten zu überführen. Eine solide Eignungsdiagnostik ist wichtig, um zuverlässige Methoden mit geringer Anfälligkeit für verfälschende Selbstdarstellung zusammenzustellen.
Methoden, die nachweislich eine Lösung gegen die Effekte sozial erwünschten Antwortverhaltens sind
1. Mittelwertverschiebung als Filter-Ausgleich
Diese Methode geht allgemein davon aus, dass sich Bewerber in der Auswahlsituation ausnahmslos besser darstellen, als sie in der Realität sind und sozial erwünscht antworten. Bewerber legen sozusagen einen „Beschönigungs-Filter“ über ihre Antworten, mit dem sie ihre Persönlichkeit tönen. Sie schönen Persönlichkeitseigenschaften, manipulieren sie aber nicht vollkommen: Stärken werden ausgeprägter, Schwächen weniger offensichtlich.
Bewerber geben sich so, wie sie wirklich sind – nur eben mit einem Filter darüber.
Damit bleibt das gegebene Persönlichkeitsprofil erhalten. Auf diese Weise können sie Stärken und Schwächen im späteren Auswahlinterview noch rechtfertigen.
Wird der Mittelwert in einer angemessenen Norm angehoben, wirkt das dem Beschönigungs-Filter entgegen – und zeigt die Kandidaten wie sie sind, also ohne den überzogenen Filter. Allerdings wird dieses Verfahren jenen zum Nachteil, die ganz ehrlich antworten.
Seine Persönlichkeit sozial erwünscht zu präsentieren, bedeutet deshalb noch lange nicht, dass jemand den Job bekommt. Denn auch andere Testergebnisse – wie kognitive Fähigkeiten – sind für die berufliche Eignung relevant. Und dort wirkt sozial erwünschtes Antwortverhalten nicht.
2. Nachfragelisten
Zudem folgt meistens nach einem allgemeinen Screening noch ein persönliches Interview. Um Selbstdarsteller zu entlarven, lohnt sich also der Einsatz von mehrstufigen Prozessen, insbesondere dann, wenn sie optimal aufeinander abgestimmt sind. Durch Nachfragelisten werden im Bewerbermanagementsystem beispielsweise nach einem Persönlichkeitstest automatisch Nachfragen generiert, die sich auf das konkrete Ergebnis beziehen. So stellen Recruiter Testergebnisse auf eine breitere Basis und Aussagen der Bewerber auf den Prüfstand. Spezielle Interviewtechniken helfen dann, Übertreibungen zu identifizieren.
Recruiter können beispielsweise Kandidaten mit hohen Testergebnissen in einem nachfolgenden Interview spezifische Fragen zur Überprüfung stellen.
Umgekehrt können Nachfragen auch für schwach ausgeprägte Eigenschaften gestellt werden. Die Methode der Nachfragelisten belohnt ehrliche Kandidaten, die auf die gestellten Nachfragen gute und glaubwürdige Erfahrungen und Verhaltensbeispiele liefern können.
3. Methodenkombination: Erfassen von Persönlichkeitsmerkmalen mit verschiedenen Testverfahren
Persönlichkeitsprofile lassen sich am einfachsten und effizientesten in Testverfahren mit Likertskalen darstellen. Beispielsweise bietet eine Likertskala bei einer Frage wie „Ich bin immer pünktlich“ die Auswahlmöglichkeiten „trifft gar nicht zu“, über „teils, teils“ bis hin zu „trifft voll und ganz zu“. Diese Antwortmöglichkeiten geben Kandidaten jedoch die Möglichkeit, sozial erwünscht und damit in gewissen Grenzen wirklichkeitsverzerrt zu antworten.
Deutlich aufwändiger und komplexer, aber dafür weniger anfällig für Verfälschung sind alternative Testmethoden wie Forced-Choice-Tests, Situational Judgment Tests (SJT) und implizite Assoziationstests (IAT), die auch kombiniert werden können.
Forced-Choice-Testfragen „zwingen“ Kandidaten zur Auswahl: Sie müssen sich zwischen drei attraktiven Antwortmöglichkeiten entscheiden und sie in eine Rangreihenfolge bringen. Die Antwort, die am besten passt, bekommt Rang 1 – diejenige, die am wenigsten passt, Rang 3.
Beim Forced-Choice-Format müssen sich Kandidaten zwischen drei Antworten entscheiden – Recruiter erhalten so klare Persönlichkeitsprofile.
Auch Situational Judgement Tests (SJT) sind weniger anfällig für bewerberseitige Selbstdarstellungen, die von sozial erwünschtem Antwortverhalten getrieben sind. Sie erfassen das Verhalten in relevanten, erfolgskritischen Berufssituationen. Hier bringen die Kandidaten verschiedene Verhaltensweisen in eine für sie passende Rangfolge, die dann Aufschluss über die Persönlichkeit gibt.
Beim impliziten Assoziationstest (IAT) werden Zuordnungen im Millisekundenbereich verlangt. In einer ersten Runde ordnen Kandidaten ich-bezogene Kategorien, in einer zweiten fremdbezogene.
In impliziten Assoziationstests geht es um Geschwindigkeit: Kategorien, die mir näher sind, kann ich schneller zuordnen.
Sie umgehen den Effekt der sozialen Erwünschtheit, weil Kandidaten keine Zeit für eine Abwägung zwischen erwünscht und unerwünscht bleibt. So erhalten Recruiter mit der Methode Ergebnisse, die nah am tatsächlichen Verhalten der Kandidaten sind. Dieses Testformat ist jedoch sehr aufwändig in der Konstruktion und Anwendungsdauer – deshalb ist der Einsatz im beruflichen Kontext eher selten.
Methoden, die nachweislich keine Lösung gegen die Effekte sozial erwünschten Antwortverhaltens sind
1. Lügenskalen
Lügenskalen sind solche Fragen in Fragebögen, von denen (fälschlicherweise) ausgegangen wird, dass sie auf niemanden zutreffen. In einem entsprechenden Fragebogen ist jede zehnte Frage eine Lügenskala-Frage, wie beispielsweise: „Haben Sie Zuhause dieselben Manieren wie im Restaurant?“. Wenn sich Bewerber von ihrer besten Seite präsentieren wollen, antworten sie hier mit „trifft voll und ganz zu“. Diese Antwort wird im Fragebogen als Lüge gewertet.
Lügenskalen funktionieren nicht, weil es immer Menschen geben wird, die von der Norm abweichen. Es gibt durchaus Menschen, die sich Zuhause genauso manierlich benehmen wie im Restaurant. Lügenskalen-Items lassen sich dann nicht von wahren Persönlichkeits-Items unterscheiden und damit gibt es auch keine Möglichkeit, die Ergebnisse in den Persönlichkeitsfragen sinnhaft zu korrigieren. Hiervon sind jedoch Kontrollskalen zur sozialen Erwünschtheit zu unterscheiden, die nicht im realen Verfahrenseinsatz, wohl aber in der Konstruktionsphase eines Persönlichkeitsfragebogens eingesetzt werden. Mit dieser Methode können bereits vor dem Einsatz eines Verfahrens alle Aussagen ausgeschlossen werden, die besonders zu sozial erwünschtem Verhalten „einladen“.
2. Fragen mit Zeitbeschränkung, die Betrug nachweisen sollen
Jeder Kandidat, der in einem Test länger als eine bestimmte Sekundenanzahl für eine Antwort benötigt, wird nach diesem Verfahren der Lüge verdächtigt. Bei einem realen Eignungstest geht es allerdings um eine attraktive Stelle, so dass sich Bewerber sehr wohl etwas Zeit nehmen, um ihre Antworten sorgfältig zu durchdenken. Die Komplexität eines Merkmals und die Formulierung der Frage haben oftmals einen viel größeren Einfluss auf die Zeit, die für eine Antwort benötigt wird, als die Überlegung, ob Kandidaten dann lügen oder nicht.
Selbstdarstellung durch sozial erwünschtes Antwortverhalten komplett auszuschließen, ist im Bewerbungsprozess schwierig, aber mit geeigneten eignungsdiagnostischen Verfahren und mehrstufigen Auswahlprozessen möglich. Standardisierte Nachfragen und Auswahlinterviews helfen Personalverantwortlichen bei der Spurensuche nach falschen Fünfzigern, die sich in der Vorauswahl einen Vorteil verschaffen konnten – und alternative Messmethoden reduzieren die Möglichkeiten, Selbsteinschätzungen zu beschönigen. Multimodale Personalauswahl sichert damit auf selbsteingeschätzte Persönlichkeitsprofile mit zusätzlichen Methoden wirkungsvoll gegen Selbstdarsteller ab und nutzt gleichzeitig eine der wirkungsvollsten diagnostischen Quelle überhaupt – denn wer kennt uns schon besser als wir uns selbst?
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